Mari Kalkun

Mari Kalkun

© Ruudu Rahumaru

Mari Kalkuns Stimme spricht aus den Tiefen der estnischen Wälder zu uns. Die Musikerin ist tief in der reichen Folktradition ihrer Heimat verwurzelt. Sie singt im südestnischen Dialekt Võro und verarbeitet eigene Erlebnisse im Stil traditioneller Volkslieder. Der weiche, flirrende Klang der estnischen Sprache schafft eine meditative Atmosphäre von ruhiger Schönheit. Mit „Ilmamõtsan” legt die in ihrer Heimat bereits mehrfach ausgezeichnete Künstlerin bereits ihr drittes Soloalbum vor.

Sie selbst sagt zu „Ilmamõtsan“:
„Es sind fast sieben Jahre vergangen, seit ich mein letztes Solomaterial veröffentlicht habe. Das heißt aber nicht, dass ich in der Zwischenzeit untätig herumgesessen bin! Ganz im Gegenteil: Ich habe einen Master in traditioneller Musik im Fach Gesang erlangt. Ich habe eine Tochter zur Welt gebracht. Ich habe die internationale Band Mari Kalkun und Runorun gegründet und ein Album veröffentlicht. Ich habe eine weitere CD speziell für Kinder in Võro
eingespielt. Und nachdem ich in den vergangenen Jahren in verschiedenen Städten gelebt habe, bin ich jetzt in das Haus meiner Familie ins Võrumaa zurückgekehrt. Ich habe damit begonnen, den Bauernhof zu renovieren, den mein Urgroßvater vor mehr als 100 Jahren erbaut hat. Während meine kleine Tochter laufen lernte, hatte mein Vater nicht mehr die Kraft dazu. Ich habe erlebt, dass mein Vater und mein Onkel gestorben sind. Ich habe damit begonnen, meine eigenen Texte zu schreiben. Ich habe gelernt, mich besser in meiner Muttersprache Võro auszudrücken. Ich habe die hiesigen Dörfler besser
kennengelernt. Ich habe ein bisschen mehr über das Musikgeschäft gelernt. Ich habe einen lange gehegten Traum erfüllt und ein Heimstudio mit Fenstern und Blick in die Natur gebaut. Ich balanciere wie eine Hochseilartistin auf einem dünnen Seil zwischen meinen Rollen als professionelle Musikerin, Haushaltschefin und Mutter. Das reicht doch, oder?
„Ilmamõtsan“ heißt wörtlich übersetzt aus dem Võro-Dialekt „der Wald der Welt“. Warum dieser Titel? Die meisten Lieder auf diesem Album sind irgendwie mit dem Wald verbunden. Die Songs sind im Võrumaa und in Rõuge geschrieben und aufgenommen worden, umgeben von Wäldern und Hügeln. Für mich, und ich denke auch für sehr viele Esten, ist der Wald wie eine Kirche. Der Wald ist ein Ort, um Frieden zu finden und in mich selbst hineinzuhorchen. Wir lieben den Wald und haben gleichzeitig ein bisschen Angst davor. Weil der estnische Wald so groß und mächtig ist und man leicht darin verloren
gehen kann. Uns liegt der Wald ganz besonders am Herzen. Eines der wenigen Themen, das in der estnischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren Massenproteste hervorrufen konnte, ist die Diskussion darüber, wie faire Waldbewirtschaftung aussehen soll. Außer der tiefen emotionalen Bedeutung, die der Wald für uns hat, spielt er eine praktische Rolle in unserem Leben, weil wir hier unseren uralten Sammlerinstinkt ausleben. Beeren- und Pilzsammeln in den Wäldern ist in Estland im Sommer und Herbst immer noch sehr weit verbreitet. Und obwohl viele Bestände abgeholzt wurden, ist Estland immer noch zu mehr als 50 Prozent von Wäldern bedeckt. Wir Esten verwenden immer noch sehr viel Holz, um unsere Häuser zu heizen und uns im Winter warmzuhalten.

Mein Leben als Musikerin führt mich an die unterschiedlichsten Ecken der Welt und dies lässt mich darüber nachdenken, was mit unserem Planeten geschieht. So haben verschiedene Themen heimlich Einzug in meine Songs gefunden: Der Überfluss an Informationen. Die Globalisierung. Der leidenschaftliche Einsatz der indigenen Völker für die Umwelt. Denn die Welt ist auch wie ein Wald, voller Schätze und voller Beeren, aber ebenso voller Dunkelheit. Man kann sich in den Wäldern hoffnungslos verirren. Ich muss meine Wurzeln kennen und fühlen, um mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität zu stehen und um meinen Kopf, der sich mit dem Schreiben von Songs beschäftigt, in den Wolken zu haben.
Die Songs auf dem Album sind sehr persönlich. Sie wurzeln sehr stark in der Tradition, erkunden aber auch neue Möglichkeiten für Klang und Stimme. Die meisten der hier versammelten Songs sind Freunden oder Familienmitgliedern gewidmet. Einige sind inspiriert von lokalen Geschichten, wie etwa dem mutigen Widerstand der estnischem „Waldbrüder“ gegen die sowjetischen Besatzer. Viele Songs kreisen um zentrale Lebensereignisse wie Geburtstage, Hochzeiten und Beerdigungen, die in Estland immer von Gesang begleitet werden. Es scheint, als bräuchten die Menschen manchmal Lieder, um ihre Gefühle besser verarbeiten zu können. Diese sehr traditionellen Emotionen waren ein sehr wichtiger Auslöser für meine neuen Songs.
Das Album ist also sehr stark vom einem „südestnischen Gefühl“ geprägt. Das gesamte Album ist in meinem neuen Studio im Võrumaa entstanden und in einem Studio in Tartu gemischt worden. Die Aufnahmen sind also mitten in der Natur entstanden und vom Blick aus dem Fenstern und von den verschiedenen Wetterphänomenen beeinflusst worden. Ich konnte direkt von meinem Schlafzimmer aus ins Studio gehen und einen Song aufnehmen.
Die stilleren Tracks wie „Lumeuni“ konnten nur nachts aufgenommen werden, wenn alle schliefen. Nur so konnte ich die Stille und den richtigen Rhythmus finden, in der friedlichen Nacht!
Mari Kalkun begleitet sich auf der Kannel, der griffbrettlosen Kastenzither, die in Finnland, Estland und Karelien weit verbreitet ist. Sie ist aber auch auf dem Klavier, dem Akkordeon, der Flöte, der Pfeife und verschiedenen experimentellen Instrumenten versiert. Die Musikerin ist im Rahmen ausgedehnter Tourneen bereits in Frankreich, Ungarn, Großbritannien, Deutschland, Russland, Armenien und Japan aufgetreten.

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